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Porcupine Tree : Alben

  Vor diesen letzten Alben gab es schon eine Menge Output. Am besten über die Links checken...
The Incident
Typ2 CD / Studio
Jahr2009
LabelRoadrunner (Warner)
Songs CD -1-
  1. The Incident
    1. Occam's Razor
    2. The Blind House
    3. Great Expectations
    4. Kneel And Disconnect
    5. Drawing The Line
    6. The Incident
    7. Your Unpleasant Family
    8. The Yellow Windows Of The Evening Train
    9. Time Flies
    10. Degree Zero Of Liberty
    11. Octane Twisted
    12. The Seance
    13. Circle Of Manias
    14. I Drive The Hearse
CD -2-
  1. Flicker
  2. Bonnie The Cat
  3. Black Dahlia
  4. Remember Me Lover
    Im Spätsommer 2009 erscheint dieses Werk aus zwei CDs, nachdem bereits im Frühjahr das erste Solowerk Insurgentes (s.u.) von Frontmann Steven Wilson erschien. Inhaltlich wie musikalisch liegen die beiden Scheiben eng bei einander. Und dies ist nicht nur der Fall, weil es sich um denselben Songwriter handelt. Laut einem Interview im Prog-Magazin Eclipsed (Ausgabe 113, September 2009) ist diese Platte hier der Abschluß einer verknüpften Trilogie, deren andere Teile eben besagte Insurgentes und die ältere Platte In Absentia (s.u.) sind.

    Musikalisch besinnen sich Porcupine Tree mit diesem Album wieder stark an ihren frühen Werken. Während die letzten drei Studioalben von der Warszawa (s.u., Album hier nur gelistet, aber nicht rezensiert) bis hin zum düsteren Konzeptalbum Fear Of A Blank Planet (s.u.) mehr und mehr psychedelische und metallerne Elemente aufwiesen, ist diese Platte nur noch sporadisch von verzerrten Gitarren durchzogen, widmet sich wieder dem sphärischen Artrock und einzelnen Songs mit ihren abgschlossenen Ideen. Auch wenn es zunächst ganz anders aussieht...

    CD -1- The Incident (Songzyklus)

    Nominell ist die komplette erste CD ein einziger Longtrack, der sich lediglich in mehrere Kapitel unterteilt. Aber es handelt sich hier nicht um einen geschlossenen Longtrack. Vielmehr sind es wenige wirklich komplette Songs, der Rest sind teils instrumentale Songschnipsel, Ideen und Ambient-Versatzstücke. Hier muß niemand über 55 Minuten einen roten Faden verfolgen. Darauf weist schon der Albentitel "The Incident" hin, was auf Deutsch ungefähr so viel wie "Ereignis" oder "Zwischenfall" bedeutet. So geht es um kleine Ereignisse, viele davon aus Sicht des Songwriters Steven Wilson persönlich beschrieben. Auch die Reihenfolge der Bruchstücke entstand eher zufällig, ist in einen guten Wechsel aus zweiminütigen Klangepisoden (wie dem instrumentalen Opener Occam's Razor [Track #1], dem zaghaften und dünnen The Yellow Windows Of The Evening Train [Track #8] oder dem Circle Of Manias [Track #13] mit düsterer Psychodelo-Atmosphäre) und längeren "ausgespielten" Songideen unterteilt.
    Nach The Blind House (Track #2) mit knappen sechs Minuten fallen hörbar besonders Drawing The Line (Track #5) mit starker Ohrgängigkeit und der fünfminütige folgende Titelsong The Incident (Track #6) auf, der mit seinen schwarzmalerischen Synthesizerklängen, trockenen Gitarrenriffs und drogentripverwaschenen Gesang ausnahmsweise sehr ans Vorgängeralbum Fear Of A Blank Planet (s.u.) erinnert.
    Herzstück und mit elfeinhalb Minuten längstes Kapitel in diesem Songpatchwork ist Time Flies (Track #9), der mit lockeren und lebendigen Melodiebögen, massig vertrackter Metrik und angenehmem Gesang erzählt, worum es auf dieser CD Nummer eins in der Quintessenz geht: die Zeit mit all ihren Ereignissen flitzt nur so an uns allen vorbei. Wechselhaft und verspielt wie der Rest dieses Longtracks hält auch dieses Kapitel niemals eine Spur durch, bricht in Stimmungen und Instrumentalisierung mehrfach um. Ein wunderbarer progressiver Longtrack, der wirklich in jedem Takt Abwechslung und dichte Atmosphäre pur liefert!
    Das Puzzle aus Teilchen eines Lebens endet thematisch konsequent mit I Drive The Hearse (Track #14) mit der Fahrt in einem Leichenwagen, denn das bedeutet "hearse" auf deutsch. Der finale Sechseinhalbminüter ist still, weich und ein wenig melancholisch. Und wie beim Rest der Songfragmente dominiert eine feierliche Stimmung, deren Glanzlichter weit über die Schatten hinaus strahlen.

    CD -2- Die Ausgewiesenen

    Flicker (Track #1) ist ein dreieinhalbminütiger, sphärisch beginnender Tropfen Ruhe. In weiten Strecken wird zwischen dem dominanten Synthi und der Gitarre harmonisch experimentiert.
    Bonnie The Cat (Track #2) klingt wesentlich vertrackter. Sehr dominant ist die Rhythmusstruktur von Bass und Schlagzeug. Die Keyboards füllen mit kantigen Samples, der Gesang ist abgehackt, verfällt streckenweise sogar komplett in nüchternen Sprechgesang. Nach der Hälfte gibt es einen plötzlichen Rhythmusumbruch und harte Gitarrenriffs, es wird sehr proggy. Von Klang und Aufbau fällt dieser Titel, der eine extreme Sterilität um sich aufbaut, es offensichtlich nicht darauf anlegt, dem Hörer zu gefallen - trotzdem oder gerade deswegen hat er einen hohen Wiedererkennungswert -, ziemlich weit aus dem Rahmen des gesamten Albums. Knapp sechs Minuten genialer musikalischer Kratzbürstigkeit.
    Das kurze Black Dahlia (Track #3), das aus der Feder von Keyboarder Richard Barbieri stammt, ist das exakte Gegenteil vom Vorsong. Eine melodieüberflutete Lichtung der Ruhe und des Friedens. Ohne Falltürchen kann man nochmals dreieinhalb Minuten lang entspannen und genießen. Sehr schön - und beinahe zu kurz.
    Remember Me Lover (Track #4) beginnt sphärisch und ruhig, Keyboards und mehrstimmiger Gesang bringen den Zuhörer mit Ruhe in diesen Finalizer. Doch der siebeneinhalbminütige Schlußsong hat in der Mitte seine dunklen Phasen, es dürfen noch einmal verzerrte Gitarren ein wenig sägen. Zwar kehren Melodie und Frieden aus dem Songbeginn noch einmal wieder, aber im Abschluß geht es die letzten Minuten komischerweise instrumental und widerspenstig zu. Ein unerwarteter Ausklang des Werkes.
Gleich reinhören? Einen Zusammenschnitt gibt es bei YouTube:
Porcupine Tree - The Incident (album preview)

    Die gesamte The Incident ist ein guter Zusammenschnitt der Stärken dieser Band. Die erste CD ist eine abwechslungsreiche Zusammenstellung aus Songs, Klängen und Stimmungen, die sehr fesselt. Besonders - nichts Neues für ein Prog-Album - wenn man sie bereits ein paarmal gehört hat und die Themen wiedererkennt. Dabei spielt die Band wie in früheren Zeiten viel mit Klängen, stimmungsabhängiger Instrumentalisierung und Rhythmik. Die harten und teils bitterbösen Gitarrenwände, wie sie zuletzt auf der Fear Of A Blank Planet (s.u.) im Vordergrund standen, kommen hier so gut wie gar nicht vor. Ich mochte auch dieses letzte Studioalbum sehr, aber man merkt, daß dieser Stilwandel nur eine experimentelle Phase der Band war.
    Hier stehen wieder Atmosphäre und Stimmung im Vordergrund, kein Song ist an ein Gesamtkonzept gebunden, keiner der großartigen Instrumentalisten muss sich irgendwo beweisen. Und auch wenn sich die Band hörbar wieder an ihrem früheren Stil orientiert, ist dies kein Rückschritt, sondern ein fünfundsiebzig Minuten dauernder Trip durch die Weiterentwicklung von Porcupine Tree und ihres extrem schaffensreichen Frontmanns Steven Wilson.

    Ein tolles und vielfältiges Artrock-Album im älteren Stil der Band!

Lightbulb Sun
Typ2 CD / Studio / Enhanced
Jahr2008
LabelK-Scope (SPV)
Songs CD -1-
  1. Lightbulb Sun
  2. How Is Your Life Today?
  3. Four Chords That Made A Million
  4. Shesmovedon
  5. Last Chance To Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled
  6. The Rest Will Flow
  7. Hatesong
  8. Where We Would Be
  9. Russia On Ice
  10. Feel So Low
CD -2-
  1. Lightbulb Sun
  2. How Is Your Life Today?
  3. Four Chords That Made A Million
  4. Shemovedon
  5. Last Chance To Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled
  6. The Rest Will Flow
  7. Hatesong
  8. Where We Would Be
  9. Russia On Ice
  10. Feel So Low
  11. Disappear (Dolby 5.1 Mix)
  12. Buying New Soul (Dolby 5.1 Mix)
  13. Cure For Optimism (Dolby 5.1 Mix)
    Gleich vorweg der Hinweis, daß dieses Album über die "Glühbirne Sonne" kein neues Werk aus 2008 ist, sondern ein Re-Release aus dem Jahr 2000. Aufmerksam wurde ich darauf zu Beginn des Jahres 2009 im Rahmen der Ankündigung einer neuen Soloscheibe des Frontmanns Steven Wilson. Es ist also der überarbeitete direkte Vorgänger der Platte In Absentia (s.u.) aus 2003, also einer Zeit, in der die progressive Düsternis noch weit weg war, viel mit Klangsphären, ausgetüftelten Arrangements und feiner Rhythmusarbeit experimentiert wurde.

    Mit Lightbulb Sun (Track #1) beginnt das Album mit seinem fünfeinhalbminütigen Titelsong und die Klangwelt ist genau die, die ich mir vor dem allerersten Probehören vorgestellt hatte. Eine hauchdünne Westerngitarre, ein dezentes Piano und eine beinahe tastend klingende Stimme des Frontmanns führen langsam in den Song hinein. Das bald einsetzende Schlagzeug klingt gerade heraus, ein hüpfender Bass belebt schon beinahe unpassend heiter. Einzig aus der Art schlägt eine E-Gitarre, die sich mit sägendem Ton stellenweise immer wieder in den Vordergrund drängt, nach einigen Phrasen wieder komplett Ruhe gibt. Bei sehr durchgängiger Thematik wechselt der Song spielerisch zwischen unterschiedlichen Instrumentschwerpunkten und Melodiebögen. Ein toller Opener.
    How Is Your Life Today? (Track #2) präsentiert sich gänzlich anders. Ein dünnes Piano spielt simple Akkorde im 6/8-Takt (oder ist das schon eine Polka oder ein Walzer?!), die Stimme liegt deutlich weiter vorne, ist lauter, aber sehr schleppend und gebogen. Im Grunde war es das mit dem Line-Up für diesen Song auch schon, es gibt später noch mehrstimmige Vocals und am Ende schwimmende Synthesizerpassagen. Dieser weit unter drei Minuten bleibende Song erinnert mich an den auf der nächsten Platte befindlichen Heartattack In A Layby (In Absentia, Track #10), spielt mit sehr ähnlichem Arrangement und Stimmungen. Ein tolles, extrem kurzes Zauberkunststückchen!
    Four Chords That Made A Million (Track #3) klingt zunächst erschreckend unkompliziert und dezent rockig. Aber ein unüberhörbar schräger Synthesizer fiedelt immer wieder dazwischen, Harmonien und Percussions des Intros bringen einen seltsam orientalischen Touch mit. Erst kurz vor Ende verlässt der Dreiminüter seine rockige Spur für eine überraschende Bridge gänzlich, wird zu einer Mischung aus Fernostklängen und spährischem Pink Floyd-Revival.
    Shesmovedon (Track #4) schafft es als erster Titel bis hinter die Fünfminutenmarke, ist ein toll zusammengestellter Song. Zunächst legen ein Schlagzeug und eine Westerngitarre los, über die Gitarrenlinie doppelt der Gesang fast tongenau die Melodie. Das Tempo ist nicht hoch, aber die konstante Vorwärtsbewegung, die der Songtitel ankündigt, ist deutlich spürbar. Nach und nach setzen E-Gitarren und Keyboards ein, der vielstimmige Staccatogesang geht wunderbar ins Ohr. In der Bridge bleibt das Hauptthema bestehen, wird jedoch nur mit Westerngitarre und vielstimmigen Vocals gespielt, ein nicht wirklich spektakuläres aber stimmungsmäßig brillant treffendes Gitarrensolo folgt. Bis zum Songende bleibt die Konstanz der gleichmäßigen Bewegung erhalten, zur Krönung endet der Song quasi unvollendet mitten im angedeuteten Ausklang.
    Allein für den Songtitel Last Chance To Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled (Track #5) würde ich ja schon einen Grammy vergeben *grins*. Der Song teilt sich in zwei Teile. In Teil eins gibt es seltsame Klänge - ist das ein Banjo? - aus Gitarren, einem speckigen Fretlessbass und Vocals. Die Texte sind sehr komisch - jedenfalls nicht das, was man sich unter dem Titel vorstellen mag. Es heisst da: "wir könnten zusammen einschlafen, im Traum auf ein oder zwei Bäume klettern, die Sonne über unserer verschlafenen Stadt untergehen sehen" von vergangenen Sommern wird gesungen, doch von Schwermut und Reue ist nichts zu spüren. Die Atmosphäre ist verspielt und im Grunde viel zu heiter. Das ändert sich im zweiten Songteil auch nicht wirklich, wenn statt Gesang nur Sprachsamples eingespielt werden. Auch der ansonsten instrumentale Part zwei bringt wenig neue Elemente, schwimmt flächig. Jedoch wird es in dieser bizarren Mixtur aus Traum und Weltuntergangsstimmung nicht langweilig. Meister-Arrangeur und Klangzauberer Steven Wilson hat mit der Nummer ein wirklich schönes weisses Kaninchen aus dem Hut gezogen.
    The Rest Will Flow (Track #6) klingt danach ziemlich poppig, einfache Gitarrenlines, einen unkomplizierten Bass und sogar Streicher gibt es auf die Ohren. Gut, da singt zwar ein lyrisches Ich, wie es mit geschlossenen Augen langsam im Wasser versinkt, aber davon lässt sich der gutlaunig klingende Song seine Stimmung keineswegs vermiesen. Getreu dem Motto "wir können auch mein Ertrinken noch feiern" lädt das lyrische Ich sogar die Engelchen, die es kurz vor seinem Ende sieht, noch ein, mit ihm in die Tiefen hinabzufliessen. Zusammen mit den Lyrics wird aus dem Song eine ziemlich morbide Sache - gerade weil die Instrumentallinie krampfhaft pompös, unkompliziert und heiter ist.
    Hatesong (Track #7) ist mit satten achteinhalb Minuten zum Beginn des Showdowns der Platte ein wirklicher Longplayer. Bis knapp zur Hälfte dominiert ein deutlicher Bass das Geschehen, um den sich die anderen Instrumente wechselnd herumlegen, es gibt sogar einmal Flageoletts vom Bass zu hören! In der Mitte ist zunächst Schluß mit Text, es wird düsterer. Der Song mit der Kernaussage "Du Sau hast mich verlassen!" wütet nicht, ist aber durchweg grummelnd, bitter und musikalisch einfach mitziehend.
    Der anschliessende Where We Would Be (Track #8) scheint thematisch daran anzuknüpfen, greift auch textliche Themen von Vorsongs wieder auf. Er ist eine melancholische Erinnerung an bessere Zeiten, eine Hommage an Träume vergangener Tage, die untergehende Sonne. Das Tempo ist sehr getragen, die Stimmung bittersüß - stellenweise beinahe schmalzig. Aber dank seiner Kürze und dynamischen Struktur kriegt der Titel die Spur in Richtung "charismatisches Intermezzo" noch hin.
    Russia On Ice (Track #9) bringt mit satten dreizehn Minuten kurz vor Torschluss den Longtrack der Scheibe mit und vor allem jede Menge schwimmende Sphären und Charisma. In dem knapp bemessenen Text geht es um einen scheinbar im Vollrausch dahindümpelnden Russen, der das Eis, die Kälte, seinen Alkoholismus, schlicht alles bejammert. Die traurige Quintessenz ist "ich kann eben nicht aufhören ich zu sein". Doch dieser Song macht sich nicht über das Klischee des dauerbesoffenen Wodkaschluckers lustig, er drückt auch nicht gekünstelt auf die Tränendrüse, sondern gibt mit seinem Titel und dem Text eine knappe bildliche Vorstellung, mit der zusammen man sich getrost mit geschlossenen Augen dem Spiel der Klänge hingeben kann, während sich Synthesizer, Hammond, Streicher, Bass und kurze E-Gitarren Parts die Klinke in die Hand geben. Und ganz am Ende klingen irgendwo in der Ferne warme Kirchenglocken in der eisigen Landschaft. Für alle Freunde des sphärischen Synthi-Progressive sicher ein Leckerbissen!
    Feel So Low (Track #10) kriegt am Albenende eine unerwartet versöhnliche Wendung. Nach all den einzelnen Schicksalen, den teils bitteren Gefühlen, allen kleinen Tragödien sind wir alle noch da. Zu einer noch niedergeschlagenen aber aufblickenden Instumentallinie singt Steven Wilson ein "Sieh Dir an, wie lange ich durchhalten kann!" über eine warme Klangmischung aus Streichern und Cleangitarren. Für sich ist dieser Schlußsong sicher kein Highlight, aber nach dem komplatten Album eine passende und wohltuende Abrundung.

    Vom Stil her liegt das Album sehr nah an dem nachfolgenden In Absentia (s.u.), ist nicht ganz so wechselnd in seiner Klangvielfalt, hat dafür einen in sich geschlosseneren Charakter und mehr den Hauch eines Konzeptalbums, auch wenn hier nicht mit wiederaufgegriffenen Themen und Phrasen experimentiert wurde.
    Ich selbst wäre mit der regulären Albenversion aus 2000 sicher genauso glücklich geworden - die gab es aber nach diesem Re-Release nicht vorrätig. Auf CD Nummer 2 gibt es alle Songs in DVD-Qualität und Dolby 5.1 plus ein wenig Extraschnickschnack. Das sollte jeder selbst entscheiden, ob er das möchte oder nicht.

    Klang- und Sphärenzauberer Steven Wilson melancholisch und kompositorisch meisterhaft!

Fear Of A Blank Planet
Typ1 CD / Studio
Jahr2007
LabelRoadrunner (Warner)
Songs
  1. Fear Of A Blank Planet
  2. My Ashes
  3. Anesthetize
  4. Sentimental
  5. Way Out Of Here
  6. Sleep Together
    Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir das Album zugelegt habe. Nachdem ich nur die In Absentia (s.u.) kannte, verunsicherte mich zunächst das allgemein schlechte Abschneiden der Platte bei Besprechungen und Rezensionen bei einschlägigen Prog-, Metal- und Fan-Websites. Kritikpunkt war hier nicht etwa schlechte Musik an sich, sondern - wie so oft - ein merklicher Stilwandel. Von unpassenden Anleihen wurde gesprochen, von einer zu düsteren Atmosphäre, die das songwriterische Potential von Frontmann Steven Wilson zu weit unterdrückt. Nach und nach stieß ich immer häufiger auf Vergleiche mit Tool, in deren Richtung angeblich stark abgekupfert sein sollte. Diese Jungs gehören nicht zu meinen Favoriten, aber gerade die Vorstellung eines Crossovers zwischen dem "klassischen" Porcupine Tree und dieser Musikecke ließ mich denn doch in den Musikhandel tapern. *grins*

    So, was haben wir da in den Händen? Erstmal eine Scheibe mit lediglich sechs Songs. Das heißt, daß man lange Titel bekommt, die jede Menge In-sich-versink-Potential versprechen. So weit, so proggy. Das Cover, der Albentitel und die Namen der Songs sprechen eine klare Sprache. Dem Verfasser dieser Musik schien scheinbar nicht die Sonne aus dem Gesäß. Worum es inhaltlich in den Lyrics geht, ist schnell ausgemacht:
    Endzeitstimmung, Verzweiflung und sterile Langeweile, die teilweise mit Medikamenten und Drogen vertrieben werden soll. Wie vom Frontcover aus, blicken uns auch im Booklet immer wieder entfremdete Kindergesichter an. Auch wenn das Thema nicht explizit überstrapaziert wird; im Mittelpunkt des Interesses steht scheinbar die heutige Jugend in übertrieben dargestellter Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, den naheliegenden Auswegen wie Drogen, Kriminalität und Gewalt.
    Die Scheibe schafft es, dieses Thema konsequent zu umspielen. Jedoch wird hier ein zu deutliches Schuldzuweisen vermieden, der anklagende Zeigefinger, der womöglich zu aufgesetzt wirken würde, ist nicht zu finden. Auch gibt es keinen wirklichen Aufruf nach Änderung, keine Revoluzer-Gedanken, keine expliziten Lösungsvorschläge. Das Album zieht es vor, den Hörer in eine bedückende Diashow des stilisierten Elends zu führen, ihm kurze Momente und Stimmungen zu präsentieren, die einen nachdenklich schlucken lassen. Gerade weil es nie um zu detailierte Schicksale geht, bieten die Songs eine große Schnittmenge für den Konsumenten. Ob er nun eigene Erinnerungen und Erfahrungen, einmal gehörte Geschichten oder Presseberichte zu Hilfe nimmt: eine bildliche Dimension zu den Thematiken kann jeder herstellen und diese - hoffentlich eher abstrakt! - nachvollziehen.

    Die Klänge, die wir bei einer Rezension nicht unerwähnt lassen wollen *grins*, sind für diese Thematik brillant konzipiert.
    Der siebeneinhalbminütige Opener und Titelsong Fear Of A Blank Planet (Track #1) klingt mit klaren Gitarrensounds und einem verhaltenen Bass an, nach einer knappen Minute gesellt sich eine dünne, verzerrte E-Gitarre dazu. Das instrumentale Leitthema ist leicht psychedelisch, den vollen Umfang erreicht die Stimmung jedoch erst, als Sänger Steven Wilson manisch-düster und effektverfremdet die ersten Textzeilen singt. Neben einem kleinen Crescendo verstellt sich zum Chorus die Melodik, eigentlich wird sie schon zu friedlich, verläßt aber nicht komplett den psychedelischen Sektor. Zur Songmitte gibt es eine instrumentale Synthesizer-Passage, auf die nach einem knappen Drum-Fill eine recht ruppige Gitarren- und Bass-Ausschweifung folgt. Das Songende ist ein Wechselspiel aus Tool und Pink Floyd-Atmosphären, bevor wir ganz zum Schluss noch einmal astreinen Porcupine mit Wilson am Mikro auf die Ohren bekommen.
    Der folgende My Ashes (Track #2) startet mit leichten Keyboards, zum Gesang verdichten sich die ruhigen Klänge mit Streichern und dünnen Gitarren. Der Fünfminüter tropft melancholisch und ruhig ohne weitere Schrecken vor sich hin in seinem Wogen aus Melodie und Streichersätzen.
    Und mit Anesthetize (Track #3) kommen wir schon zum siebzehneinhalbminütigen (!) Zenit des Albums. Eine dünne Synthifläche, ein leicht hüpfender Bass und seichter Gesang bilden den Anfang. In den Chorus-Passagen leben die Instrumente auf, der mehrstimmige Gesang ist schön, auch wenn die überdeutliche Tristesse ein wenig beklemmend wirkt. Nach und nach kommen mehr druckvolle Klänge dazu, mal ein Gitarrenriff, dann ein Gitarren-Solo, aber zunächst binden vor allem Bass und Keyboards zu einer Einheit, die nicht zu weit springt. Ab der Fünfminutenmarke wechselt der Song in einen eigenständigen B-Teil. Treibende Riffs, ein markiger Bass und quirlige Drums bestimmen das Klangbild, weite Teile bleiben instrumental. Dieser Song nimmt seine Lebendigkeit vor allem aus dem fein ausgetüftelten Arrangement, denn es schlägt einem nie zu viel Klang um die Ohren. Vielmehr begeistert das überraschende Wechselbad aus Stimmungen, pendelnden Instrumentalschwerpunkten und Riffings. Zu Beginn des letzten Drittels wird einmal kurz richtig gedroschen und geknüppelt, bevor wir ein völlig unerwartetes Klangpanorama mit vielstimmigen Chorälen zum Abschluss geboten kriegen. Ein wirklich beeindruckender Titel!!!
    Ein feines Piano trägt uns in Sentimental (Track #4). Das anfängliche 6/8-Metrum wird von dem bald einsetzenden Bass und Schlagzeug überlagert und verzogen. Zum ersten Chorus setzen arpeggierte E-Gitarren-Klänge und Synthesizer ein. Wie es der Songtitel will, bleibt es ruhig, friedlich und... ja, sentimental. Nur in wenigen Nuancen pendelt der Song, es gibt ein kurzes Zwischenspiel (ich glaube nicht, daß man hier von Solo sprechen kann) einer perlend klaren Westerngitarre. Ein schöner und besinnlicher Titel.
    Way Out Of Here (Track #5) legt auch hauchzart los. Eine abgedämpfte Klampfe, ein paar Synthiklänge, ein weicher Gesang. Der Titel wird dann quirliger, aber nicht zu ruppig. An vorletzter Position wirkt er wie ein verzweifelter Hilfeschrei, ein Suchen nach dem möglichen Ausweg. Nur im letzten Songdrittel knallen einem unerwartet verzerrte Gitarren um die Ohren, neue Riffs werden eingeknüppelt, die sich immer wieder virtuos mit den Melodien vom Songanfang verbinden, um sich doch wieder von ihnen wegzubewegen. Wer sich beim Probehören nicht die Zeit für Anesthetize nehmen will (es wäre ein Frevel!), ist mit diesem Titel ebenfalls einigermaßen bedient, um sich einen Einblick ins Album zu erhaschen.
    Das Ende bleibt mit Sleep Together (Track #6) in diesem Tenor. Also kein Happy End, kein letztliches Weckerklingeln, nein, es war offentsichtlich kein böser Traum. Die ersten Lyrics des Songs zeigen eher auf das Gegenteil: irgendwie muß dieser Druck nachlassen, heißt es da. Laß uns hinlegen und einfach für immer einschlafen. Atonale und abermals psychedelische Synthesizerklänge dominieren das Bild des Songs, immer wieder tauchen orientalisch klingende Themen an. Siebeneinhalb Minuten wird der Hörer in einen hypnotischen Schlaf gewogen, die letzten drei Minuten davon instrumental.

    Das Album ist musikalisch das, was ich nach den gelesenen Rezensionen erwartet habe. Es klingt deutlich düsterer als die anderen Sachen, die ich von Porcupine Tree kenne. Ob es gefällt, muß jeder (ob Fan oder auch nicht) für sich entscheiden. Ich jedenfalls habe den Kauf der Scheibe nicht bereut, zumal überall deutlich Porcupine zu hören ist. Vielmehr ist die Platte wieder ein willkommener Lückenfüller, der eine musikalische und stimmungsbedingte Sphäre bedient, in die so kein anderes Werk zuvor kam...

    Düstere Atmosphäre mit - wie sonst - hervorragend komponierter und produzierter Musik.

Deadwing
Typ1 CD / Studio
Jahr2005
LabelAtlantic (Warner)
Songs
  1. Deadwing
  2. Shallow
  3. Lazarus
  4. Halo
  5. Arriving Somewhere But Not Here
  6. Mellotron Scratch
  7. Open Car
  8. The Start Of Something Beautiful
  9. Glass Arm Shattering

Warszawa
Typ1 CD / Studio
Jahr2005
LabelSnapper Mu (SPV)
Songs
  1. Even Less
  2. Slave Called Shiver
  3. Shesmovedon
  4. Last Chance To Evacuate Planetearth
  5. Lighbulb Sun
  6. Russia On Ice
  7. Where We Would Be
  8. Hatesong
  9. Stop Swimming
  10. Voyage 34
  11. Signify

In Absentia
Typ1 CD / Studio
Jahr2003
LabelAtlantic (Warner)
Songs
  1. Blackest Eyes
  2. Trains
  3. Lips Of Ashes
  4. The Sound Of Muzak
  5. Gravity Eyelids
  6. Wedding Nails
  7. Prodigal
  8. .3
  9. The Creator Has A Mastertape
  10. Heartattack In A Layby
  11. Strip The Soul
  12. Collapse The Light Into Earth
    Ganz sachte klingen ein paar Gitarrensaiten zum Beginn von Blackest Eyes (Track #1), dem gut vierminütigen Opener. Aus der kleinen Wunderkerze im Dunkel wird schnell ein beeindruckendes Tischfeuerwerk. Saftige E-Gitarre, ein deutlicher Bass und markige Drums knattern rockig. Doch der mehrstimmige Gesang, die weichen Harmonien und die sphärischen Instrumentalparts verhindern, daß der Tisch unerwartet abfackelt. In einem friedlichen Glimmen klingt der herrliche Opener aus.
    Trains (Track #2) ist rudimentärer. Klare Westerngitarren perlen, hier und da erstrecken sich Synthesizerflächen, dann erklingt ein Banjo im Hintergrund, passagenweise wird in leicht hispanischem Rhythmus mit den Händen mitgeklatscht. In wohldosierten Portionen lebt der Song ab und an auf.
    Die Lips Of Ashes (Track #3) beginnen sphärisch, in die Synthisounds krächzt im Hintergrund eine Distortiongitarre. Lebhafte Westerngitarrenarpeggios tänzeln um den mehrstimmigen Gesang. Viereinhalb Minuten zauberhafter Ruhe.

    Einer meiner persönlichen Favoriten ist The Sound Of Muzak (Track #4). Ein stumpfer Bass und eine klare Gitarre ziehen eine seltsame Stimmung über das vertrackte Metrum der Drums. In einer gleichbleibenden Ebene singt Wilson mehrstimmig "one of the wonders of the world is going down... it's one of the blunders of the world that no one cares, no one cares enough". Gemeint ist mit diesem Wunder, das zugrunde geht, die Musik. Der Song ist außergewöhnlich geil arrangiert, das mittige Gitarrensolo (selten!) fliesst nahtlos mit ein. Aus der Nummer ist nicht herauszuhören, ob dieser vorhergesagte Untergang beweint, angeprangert oder stumpf nur festgestellt wird. Fünf Minuten reine Songfaszination!
    Die Gravity Eyelids (Track #5) sind wieder flächig und ruhig. Die dünnen Beats im Hintergrund könnten auch aus einem neueren Madonna oder A-ha-Album stammen. Angenehm plätschert der Song wie ein nettes Gutenachtlied vor sich hin, jedenfalls bis zur Mitte. Auf einmal zieht die Stimmung ins Düstere, wird schneller, rockiger und weitläufig instrumental. Mit knappen acht Minuten der längste Song der Platte.
    Bei Wedding Nails (Track #6) wird heiter gerockt. Ein Slapbass hüpft durch die wuchtigen Drums und die treibende Leadgitarre, Harmonien und Rhythmus irren jenseits jeden Standards. Zur Mitte des sechseinhalbminütigen Instrumentalsongs gibt es einen Synthipart, der sich nach einem üblen Drogentrip anhört. Der Showdown kracht wieder mächtig. Wenn das nicht Neo-Prog ist, was dann?

    Vom Zenit des Albums beginnen wir den Abstieg mit Prodigal (Track #7). Der Song klingt wieder urig. Ein deutlicher Bass steht vorne im Klangbild, eine leicht verzerrte Gitarre belebt melodisch den Hintergrund. Zum Chorus kommen runder mehrstimmiger Gesang und Keyboards dazu, der Song tröpfelt leicht melancholisch mit Textzeilen wie "the good times never seem to last" durch.
    Zeit mal wieder ein wenig (fast) instrumental zu zaubern kommt. Die einzige Textzeile ist "black the sky, weapons fly, lay them waste for your race". Warum so einen Song nicht einfach mal .3 (Track #8) nennen?!
    The Creator Has A Mastertape (Track #9) ist bassbetont groovig und postmodern. Der Song vermittelt einen gewollt sterilen Eindruck, brezelt im Chorus ziemlich, daß er sich nach ruppigem Nu Metal anhört. Gute fünf Minuten bitterer Endzeitparty.

    Das letzte Trio beginnt mit Heartattack In A Layby (Track #10). Und dieser Titel ist wieder der Oberhammer! Inhaltlich geht es um jemanden, der alleine im Auto sitzt und schläfrig wird - hier über sein Lebensende singt? Leise, andächtig und friedlich rollt der Song vor sich hin. Am Ende fliessen mehrere Textpassagen und Perspektiven in- und übereinander, daß man in dem Stimmengewirr alle Sinne verliert. Irrsinniger Song!!!
    Ein leichter Industrialtouch kommt mit Strip The Soul (Track #11). Gute sieben Minuten gibt es wieder eine sterile Soundmixtur auf die Ohren, unverbindliche Lyrics und wandelnde Arrangements zerren in alle Richtungen.
    Collapse The Light Into Earth (Track #12) ist ein versöhnlicher Ausklang für die Platte. Nur ruhige Pianoklänge unterlegen den friedlichen Gesang des Intros. Stück für Stück gesellen sich mehr Instrumente, Klänge und Gesangsstimmen dazu, mit choralen Streichern klingt das Zauberwerk aus.

    Einfach zauberhaft und schön verspielt!

Steven Wilson - Insurgentes
Typ2 CD / Studio / Audio CD + Enhanced DVD
Jahr2009
LabelSPV
Songs [Audio-CD]
  1. Harmony Korine
  2. Abandoner
  3. Salvaging
  4. Veneno Para Las Hadas
  5. No Twilight Within The Courts Of The Sun
  6. Significant Other
  7. Only Child
  8. Twilight Coda
  9. Get All You Deserve
  10. Insurgentes
Auf der Enhanced DVD befinden sich alle Songs in Dolby 5.1 Tonqualität und ein paar Info-Videos zur Platte.
    Auch wenn viele der früheren Porcupine Tree-Alben im Grund zunächst im Alleingang von Steven Wilson, dem Sänger, Songwriter, Soundkünstler, Produzenten und - ganz nebenbei - noch bei so manchem Bandprojekt fest mitspielenden Musiker, geschaffen wurden, ist diese Platte Insurgentes sein erstes offizielles Soloalbum. Schon die äußere Erscheinung macht was her: der Doppelpack aus Audio-CD und Dolby 5.1 DVD mit Bonusmaterial kommt in einer kunstfertigen Papphülle. Auf ihrer Front ist lediglich das Coverbild zu sehen. Der weisse Aufkleber, der im Bild oben zu sehen ist, klebt nur auf der Plastikverpackung. Auf der Front gibt es bis auf das befremdliche Gasmaskenbild keinen weiteren Text, weder Albentitel noch Künstler werden dort genannt. Das "Textheft" ist in die Mitte zwischen die beiden Scheiben fest eingearbeitet, wobei es sich nicht wirklich um ein Textheft handelt. Die Gastmusiker der jeweiligen Songs werden darin genannt, ansonsten gibt es mal schlichte Landschaftsaufnahmen, dann wieder künstlerisch entfremdetes Stilleben. Steven Wilson wollte diesmal die Texte nicht mitlesbar abdrucken, da er sie als gleichwertig konsumierbaren Bestandteil der Musik versteht, sie im Gegensatz zu sonst, wenn sie für sich alleine eine Handlung oder Bilder beschreiben, hier ohne die Musik keinen Sinn ergeben.
    Der Albenname Insurgentes leitet sich von der "Avenida de Insurgentes" ab, einer der längsten Straßen der Welt, die durch Mexiko-Stadt geht. Diese Scheibe wurde mit vielen Gastmusikern und über mehrere Studios weltweit aufgenommen. Dabei machte Mexiko einen besonders positiven Eindruck auf ihn. Der Begriff Insurgentes bedeutet ungefähr sowas wie "Rebellen, Rebellion oder Aufstand". Zu Recht erwartet man allein schon deshalb sicher kein aalglattes und massenkonformes Pop-Album!

    Als Gastmusiker gewann der britische Sphäro-Progger eine nette Mischung aus recht bekannten und jeweils "einheimischen" Musikern, die da wären: Theo Travis (Flöte), der mit Wilson in einigen anderen Projekten wie Porcupine Tree oder Bass Communion zusammenarbeitet, Michiyo Yagi am Koto, einer japanischen Zither, Gavin Harrison an den Drums (ebenfalls Porcupine Tree, King Crimson), den überaus versierten Basser Tony Levin (Pink Floyd, David Bowie, Yes, Liquid Tension, King Crimson uvm.), die zwei Gastgitarristen Mike Outram (E-Gitarre) und Sand Snowman an der Akustikklampfe, Jordan Rudess (Dream Theater, Liquid Tension uvm.) für Keyboards und als Gast-Vocalist einen gewissen Iren namens Clodagh Simonds, der unter anderem früher schon mit Thin Lizzy und Mike Oldfield arbeitete. So weit, so bunt gemischt. Nun ein paar Worte zu den aufständischen Klangwelten, die uns das Masterbrain zusammen mit dieser erlesenen Horde präsentiert:

    Der Opener Harmony Korine (Track #1) bekommt ziemlich genau fünf Minuten, steigt mit einer klar arpeggierenden E-Gitarre ein, um die sich Synthiklänge und mehrstimmiger Gesang legen. So weit, so Porcupine. Doch das stetige Crescendo ist erschreckend deutlich. Auf dem Höhepunkt im letzten Songdrittel wird es sehr krawallig und schräddelig, wobei man auch bei noch so dicken Klangschichten aus allen Richtungen nie den Überblick verliert. Das Leitthema wird zwar massig umspielt, kann sich über die gesamte Songlänge erstaunlicherweise aber gut halten und immer wieder durchsetzen. Für Freunde der weitergehenden Recherche: ich fand nur durch Zufall heraus, daß es einen Herrn "Harmony Korine" gibt, der sich als - sagen wir mal - abgedrehter Kurzgeschichtenautor und C-Moviemacher durch die amerikanische Promiwelt kämpft. Was genau dieser abgedrehte Typ als Leitfigur für diesen Song zu tun hat, kann ich nicht sagen. Aber wer sich das Video zu diesem Song und vielleicht ein paar YouTube-Interviews zu besagtem Herrn anguckt, findet zumindest schnell eine Parallele: "normal" geht anders! Ein klanglich verwirrender Opener, der in seiner erschlagenden Fülle schnell Lust auf mehr macht.
Gleich reinhören und -sehen?
Steven Wilson - Harmony Korine
    Abandoner (Track #2) startet mit leicht industrial-entfremdeten Handclaps, einer psychedelisch harmonierenden Orgel und abermals mehrstimmigem Gesang. Bald perlt eine Westerngitarre darüber, alles wird schwimmend und monoton mitziehend. Doch wer meinte, nach dem ersten Song auch diese knappen fünf Minuten durchgehend verdümplen zu können, irrt. Aber der Songmitte bricht alles Aufgebaute wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Lediglich das Keyboard hält grob die Spur. Es kommen sägende, brachiale Sphärenklänge, die in einem Soundtrack für einen Horrofilm gut passen würden, immer wieder verwirrende Klänge wie von einem Glasspiel im Hintergrund. Der Klangkosmos verläuft sich langsam, ist aber unglaublich kurzweilig!
    Salvaging (Track #3) ist mit knappen achteinhalb Minuten ein erster längerer Song der Scheibe. Er legt zwar mit Science-Fiction-Klängen aus dem Synthi los, wird aber schnell bodenständig, wenn Gitarre und Vocals sich harmonisch doppeln, das Schlagzeug beinahe tastend dezent dazukommt. Immer wieder kommen rebellische Klänge in den Vordergrund, aber mit der eingeschossenen Linie aus Drums, Bass, Gitarren hält der Song zunächst seine Linie. Auf dem schwerelosen Höhepunkt fecheln uns nur leichte Streicher und echotropfende Keyboardtönchen um die Ohren. Erst in den letzten eineinhalb Minuten quetscht sich klangliches Ungemach dazwischen, das wieder einsetzende Schlagzeug tastet scheinbar abermals orientierungslos, während unheilsschwangere Synthisphären sich ungehemmt ausbreiten.
    Veneno Para Las Hadas (Track #4) ist stiller Frieden pur. Klare Gitarren, pulsierende Basstöne, sanfte Pianolinien breiten sich aus, der wenige Gesang ist glatt. Auf dem Mittelteil kommen weiche Flötentöne dazu, nach den verwirrenden ersten Songs kommt einem dieser hier wie ein beruhigendes Dahintreiben inmitten eines glückseligen Klangrausches vor. Augen schliessen und geniessen, böse Fallen gibt es hier nicht.
    No Twilight Within The Courts Of The Sun (Track #5) klingt für mich nach einer interessanten Mischung aus Porcupine Tree und Liquid Tension. Bass, Schlagzeug und eine Gitarre bilden zu Beginn eine sehr jazzige Klangbasis. Das weitere Motto ist: ständige Weiterentwicklung und "jeder darf mal". Von leicht schräddeligen Staccato-Gitarrensoli, über jazzharmonische Pianolinien, schwimmende Synthiflächen ist alles vertreten. Und wenn man schon meint, daß die Jazz-Session langsam verebbt, kracht es auf einmal. Die E-Gitarren sägen, das Schlagzeug wird einmal richtig getreten. Bei diesem leicht über achteinhalb Minuten kommenden längsten Song der Platte ist aber auch wirklich nichts vorhersehbar. Ein großartiger Jam!
    Significant Other (Track #6) klingt deutlich nach dem Stammprojekt Porcupine Tree. Die Harmonien sind sehr abgedreht, aber die Instrumentalisierung und der Gesang sehr klassisch. Ein merklich psychedelischer Einschlag lauert gen Ende, wenn sich über irrsinnig hohen Gesang und schon bizarr fröhliche Harmonien die Gitarren in Ekstase spielen. Und genau in dem Moment, in dem man denken will "Mehr geht jetzt aber nicht!", ist im Bruchteil einer Sekunde auf einmal alles weg, nur ein hauchzartes Glockenspiel klimpert einsam noch einige Sekunden vor sich hin.
    Only Child (Track #7) ist wie der Vorsong knappe viereinhalb Minuten lang, stilistisch sehr porcupinig, dieser zweite Song hat jedoch keine Falltüren in der Hinterhand. Die Melodie ist sehr ohrgängig, das klangliche Zepter übernimmt ein deutlicher, markanter Bass.
    Twilight Coda (Track #8) ist mit nichteinmal dreineinhalb Minuten kürzester Albensong, instrumental und ein unscheinbares, aber klanglich wunderbares, Kleinod. Zu Beginn geben sich Piano und Gitarre dezent ein Stelldichein, die Instrumentalisierung ist dünn, zaghaft und schwebend. Gegen Ende übernimmt das Piano die Führung, wird nur von weit, weit im Hintergrund aufkeimenden Synthiflächen unterlegt. Ein extrem kurzer und schöner Klangzauber.
    Get All You Deserve (Track #9) durchbricht als letzter nochmal die Sechminutenmarke und ist für mich eindeutig die psychedelischste Tiefstmarke. Auch wenn sich am Anfang noch Piano und Gesang scheinbar friedlich umgarnen, als könnte der Song kein Wässerchen trüben, merkt man von Beginn an: da stimmt was nicht! Denn unter dem traurigen, dünnen Klavier brodeln Schmutzgeräusche, so als habe mein einen ungewollten Geistersender mit im Radiokanal. Dieser Klangschmutz ist extrem leise, aber exakt so laut, daß man an ihm nicht vorbeihören kann, ja, auf den Punkt so laut, daß er schon zwanghaft von dem zunächst friedlichen Songbeginn ablenkt. Sobald mehr Instrumente dazukommen, ist dieser absichtliche Fauxpas vergeben und vergessen, aber es braut sich konstant ein zappendusteres Klanggewitter aus Synthi, hackenden Drums und apokalyptischen Gitarren zusammen. Das Songende ist eine undefinierbare Kernschmelze.
    Letztlich der Titelsong Insurgentes (Track #10). Was erwartet uns bei dem namengebenden Rebellensong? Knappe vier Minuten stehen auf dem Zähler, aber von Aufstand oder Rebellion keine Spur! Der Song ist eine zauberhaft arrangierte Ballade mit leicht traurigem Einschlag und einem sehr glatten Songcharakter. Weite Strecken des Abschlußtitels sind instrumental, zwischen die runden, ohrgängigen Akkorde des führenden Pianos bringt das japanische Koto einen interessanten Touch von asiatischen Klängen. So unspektakulär dieser ruhige Finalizer daherzukommen scheint, so sehr vermag er diese kuriose Reise über fünfundfünfzig Minuten friedvoll zu beenden.

    Der britische Klangmagier Steven Wilson trägt auf diesem Album gemeinsam mit den Gastmusikern seine jahrzehntelange Erfahrung aus allen Bereichen der Musik zusammen. So unüberhörbar wie seine einstigen Vorbilder Pink Floyd sind seine Prägungen, die er sonst mit Porcupine Tree und anderen Bands erarbeitet hat. Alle Gastmusiker ordnen sich brillant in das Gesamtkonzept des Albums ein, bringen immer wieder schöne Akzente ein. Dieses teils improvisierte Werk, das in monatelanger Arbeit fertiggestellt wurde, bietet mir persönlich einen mehr als überraschenden Zusammenschnitt aus bekannten und neuen Stilistiken des Musikers Steven Wilson.
    Irgendwo im Web las ich als Feedback, daß dies kein Album ist, mit dem man sich auf Anhieb anfreundet. Dem pflichte ich bei! Die Songs, die Klangwelten und teils ruppigen Wogen, die über den Hörer schwappen, sich mit ohrgängigen Phrasen und schrägen Harmonien vermischen, sind alles andere als Mainstream. Vielleicht sollte man sich das Werk bei Interesse einmal in Ruhe anhören. Ich jedenfalls bin damit sehr schnell sehr warm geworden und verstehe es in dem Kontext, in dem es der mehr als begabte Musiker Steven Wilson geschaffen, klanglich höchst brillant zusammengestellt und benannt hat: eine lange musikalische Straße, eine beeindruckende Reise, die einen oft staunen, gelegentlich wundern oder rätseln läßt, vielfach einfach nur verzaubert.

    Eine unglaubliche Reise durch eine bunte und vielfältige Klangwelt!