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Redemption : Alben


Snowfall On Judgment Day
Typ1 CD / Studio
Jahr2009
LabelInside Out (SPV)
Songs
  1. Peel
  2. Walls
  3. Leviathan Rising
  4. Black And White World
  5. Unformed
  6. Keep Breathing
  7. Another Day Dies
  8. What Will You Say
  9. Fistful Of Sand
  10. Love Kills Us All / Life In One Day
    Zeitnah zum Release dieses Albums im späten September 2009 gibt es eine erschreckende Nach- richt für alle Fans der progressiven Combo: Gitarrist und Songwriter Nicolas Van Dyk leidet an einer besonders aggressiven Art von Leukämie. So bleibt nur abzuwarten, ob und wann aus seiner Feder ein nächstes Werk dieser Güte entspringt, und ihm bis dahin alles erdenklich Gute zu wünschen!

    Wie schon bei den Vorgänger-Alben spricht der Titel Snowfall On Judgment Day zusammen mit dem Cover eine deutliche Sprache. Frohsinn gibt es hier scheinbar wenig zu erwarten. Doch im Vergleich zum flammenden The Fullness Of Time (s.u.) und dem verzweifelt-deprimierenden The Origins Of Ruin (s.u.) präsentiert sich diese Scheibe ein wenig subtiler. Die verschneite Einöde in dunstigem Hellblau vom Deckblatt herrscht auch im Inneren des Booklets vor. Eingangs steht da eine einsame Holzhütte in der Eislandschaft, auf den folgenden Textseiten gibt es nur noch Eis- und Nebelatmosphäre, lediglich von wenigen dürren Strohhalmen durchbrochen. Auch die Band posiert gegen Ende des Booklets in einem winterlichen Wald. Frostig also ist der erste Eindruck. Einen einzigen Kontrast gibt uns bei genauem Hinsehen nur der Mensch, der einsam in der Einöde des Covers dick eingemummelt angelt - in einem bizarren Loch, aus dem Feuer aufsteigt. Geschlossen und irgendwie nichtssagend ist die durchgehend abstrakte Kälte des Booklets, genauso stringent wie das, was uns abermals musikalisch auf der Platte erwartet. Glücklicherweise ist der musikalische Inhalt der Platte jedoch alles andere als unterkühlt, farblos und trist...

    Der Opener Peel (Track #1) gibt mit seinen sechseinhalb Minuten schon die ungefähre Messlatte für alle folgenden Songs vor. Das zweiminütige Instrumentalintro hat zunächst einen Touch von Industrial, explodiert dann in irrsinnigen Drums, Synthsizerklängen und mächtigen Staccatoriffs der E-Gitarren. Sänger Ray Alder singt in den Strophen rauh und energisch wie selten zuvor, der Chorus ist melodisch, lickdominiert und choral, verliert trotz seiner etwas ohrgängigeren Komponenten nur sehr wenig an Druck. Auch die Solopassagen von Gitarren und Keyboards ballern schnell am Zuhörer vorbei, etliche Rhythmusfinessen verzieren die Songstruktur. Ein prachtvoller Einstand mit irrsinniger Sogkraft!
    Auch Walls (Track #2) beginnt mit einer feingliedrigen Percussion, die an Industrial erinnert, wechselt über einen dominierenden Bass zu den ersten Licks der Gitarren. Die fliessenden Licks und Riffs werden tongebend für den Song. Er hat nicht ganz die Tempostufe des Openers, ist aber alles andere als langsam, ist lediglich einen Hauch dünner und getrennter arrangiert. Der Gesang ist hier nicht mehr so wütend, dafür bringt der Frontmann seine klare Stimme mit maximaler Volllast der Stimmbänder deutlich in den Vordergrund, wenn von den Wänden gesungen - beziehungsweise geklagt - wird, die wir Menschen um uns herum und zwischen uns aufbauen, die ursprünglich als Schutz dienen sollen, sich am Ende aber bittererweise als selbstgebautes Gefängnis entpuppen.
    Leviathan Rising (Track #3) legt mit apokalyptischen Klängen auf dem Synthi los, zu dem sich wieder ein lauter Basslauf gesellt. Nach dem kurzen Intro wird es wieder richtig ruppig, die Gitarren riffen extrem trocken, die Drums sind straight und treibend. Auch wenn sich in der Düsternis der Klänge zum Seeungeheuer Leviathan bald noch das passende biblische Landmonster Behemoth gesellt, geht es hier nicht um eine abstrakte Apokalypse, sondern die menschlichen Fehler wie Machtstreben, -missbrauch und Eifersucht. Tempo und Durchschlagskraft des Songs bleiben sehr treibend bis zum Ende, doch im Chorus gibt es ohrgängige Hooklines, dazu wieder viele Instrumentalzaubereien (sogar ein kleines Pianosolo ist mit dabei) in zahlreichen Passagen, die den dritten Sechseinhalbminüter auflockern und interessant machen.
    Black And White World (Track #4) schlägt nun erstmals hörbar aus der Art, ist mein Liebling der Platte und wohl der progressive Vorzeigesong schlechthin. Das Intro beginnt mit verhallten Pianoläufen, zu denen sich nur langsam ein speckiger Bass und die ersten Gitarren gesellen. Unüberhörbar schon zu Beginn ist die ausgefeilte Rhythmusstruktur, die nur so vor exzentrischen "ungeraden Takten" strotzt. Im ersten Teil kommen zu Strophenbeginn zwar auch verzerrte Gitarren, die fluende Licks spielen oder schön gedämpft riffen, aber es ist sehr melodiös und friedlich, der Gesang ist weich und rund, ein wenig leidend. Dieser Song ist acht Minuten lang, so bleibt genügend Zeit, um im ersten Hauptteil die Leitmotive genügend vorzustellen. Der Mittelteil glänzt mit einer längeren Solostrecke, in der sich hauptsächlich Gitarren und Keyboards abwechselnd die Parts zuschieben, Bass und Drums zaubern immer mal wieder dazwischen. Besonders zauberhaft ist das Finale des Songs, das rund zwei Minuten ausmacht. Nach dem leidend-sehnsüchtigen Part eins entfaltet sich hier am Ende eine Mischung aus Wünschen und Hoffnung in einer charismatischen Atmosphäre aus Feierlichkeit und Frieden. Die positive Stimmung zwischen klaren Gitarren, perlenden Pianoläufen und wunderbaren Melodien überschlägt sich förmlich - Sänger Ray Alder kommt nicht einmal mehr mit seiner einen Stimme aus, singt mit sich selbst im Kanon, Textpassagen fliessen in- und übereinander, es gibt ein glorreiches Crescendo. Der Spannungsbogen, die lückenlosen Übergänge der einzelnen Parts und der musikalische Sonnenaufgang am Ende dieses Songs machen diesen Achtminüter eindeutig zum großen Meisterstück der Scheibe!
    Unformed (Track #5) knüpft gut an die Stimmung an, ist wieder ein wenig druckvoller und gradliniger, mit vielen Rhythmusüberraschungen und Synthiparts verziert. Mit seinen sechseinhalb Minuten greift er Arrangement und Stil der ersten drei Songs wieder gut auf.
    Keep Breathing (Track #6) übertrifft den Vorsong um eine Minute, ist sehr gedehnt und sphärisch. Gut zweieinhalb Minuten braucht der Song überhaupt, bis sich eine klare Linie einfindet, dafür bekommt er nach dem schwimmenden und tastenden Intro eine umso überraschendere Wende. Das Tempo ist nicht sonderlich hoch, dafür sind die zahlreichen Zaubereien aller Instrumente umso beeindruckender. Immer wieder wechseln gesangsbegleitete Teile mit Instrumentalstrecken, das mühsam aufgebaute Kartenhaus klappt beinahe schmerzvoll in sich zusammen, wird zu einem ruhigen Ausklang.
    Another Day Dies (Track #7) ist mit etwas mehr als fünf Minuten kürzester Song der Platte, hat aber für den Zuhörer eine kleine Überraschung im Gepäck. Über die trockenen Riffs singt nämlich zunächst James LaBrie, Frontmann der Genre-Kollegen von Dream Theater. Stilistisch passt dies äußerst gut, da diese Platte von Redemption noch am ehesten an die letzten Scheiben von Dream Theater angrenzt. Zwar ist ein langer Mittelteil dieses sowieso schon knappen Songs instrumental, aber der Wechsel und letztlich sogar das Duett zwischen La Brie und Ray Alder, die sich mit ihren Stimmkoloraturen gut ergänzen, ist ein willkommenes Highlight an dieser Stelle.
    What Will You Say (Track #8) ist auch nur fünf Sekunden länger als das Überraschungspaket zuvor und kurz vor Ende sowas wie die Quotenballade - allerdings nur im Mittel der Platte betrachtet. Mit klaren Gitarren und weichem Gesang geht es zumindest los, klimpernde Pianoläufe dazu, doch es bleibt nicht lange beim Weichspülgang. Bald riffen gedämpfte und anschliessend offene Distortiongitarren dazwischen. Dennoch bleibt der Song sehr melodisch und feierlich positiv, während sich das lyrische Ich die Frage stellt, was seine verflossene Liebe einem späteren Lover über ihn erzählen und denken wird. Inhaltlich gehen da sicher die Schmalzwarnlampen an, aber dank seiner Instrumentalisierung wird der Song nur zu einem ohrgängigen Intermezzo, allerdings nicht zu einer Entgleisung, was das Albenkonzept angeht.
    Fistful Of Sand (Track #9) knüppelt anschliessend umso wilder los, die Riffs und Rhythmik sind kantig, hart und widerspenstig. Noch einmal sechseinhalb Minuten, hier aber sicher am verbittertsten und treibendsten - inklusive synthetischer Psychogeigen im Chorus, der ansonsten immerhin einen Hauch von Glättung mitbringt, während Strophen und Soloparts einfach nur wüst und unbeherrscht verbeipeitschen. Der Showdown gleicht einem musikalischen Knallbonbon, wenn zu Streichern aus dem Keyboard und den Gitarrenriffs die Bassdrum des Schlagzeugs in mehreren Etappen explodiert.
    Love Kills Us All / Life In One Day (Track #10) als krönender Abschluß übertrifft zeitlich alles Bisherige mit seinen elf Minuten, also ein dicker Prog-Klotz zum Ende. Sehr dünn und sphärisch geben sich die ersten drei Minuten aus einer Mischung von Synthisphären und ruhigem Gesang, so daß man sich beinahe bei der vorigen Band von Frontmann Ray Alder, nämlich Fates Warning, wähnt. In bester Progressive-Manier hält sich dieser finale Longtrack an keinen roten Faden, hat seine dünnen Teile und seine treibenden Parts, bietet vor allem den Instrumentalisten viel Platz. Besonders schön ist der ausgefeilte Bogen und Harmonien am Ende, denn den Songverlauf über springt es mehrfach zwischen Themen und Phrasen, die ungewohnt zwischen Moll und gleichnamigem Dur wechseln. Am Ende bekommt man den Eindruck eines "alles hat sich doch zum Guten gewendet" vor allem wegen der durchgehend heiteren Harmonik (es wird sogar noch einmal im Kanon gesungen) nicht los. Lediglich der Ausklang kommt eine Spur zu überraschend und überrumpelt den Zuhörer unerwartet schnell.

    Songwriter Nicolas Van Dyk hat mit dieser Platte wieder ein Meisterstück aus dem Ärmel gezogen! Stil und Charakteristik im Klang der Band sind unverkennbar, und es sind sicher nicht nur für Fans des Progressive und Gitarrenfreunde zahlreiche Leckerbissen auf dieser Platte zu finden. Besonders schön finde ich die zahlreichen Pendelbewegungen und Stimmungswechsel zwischen den Tracks und Songs, die merklich druckvoller ausfallen als beim tragisch-schwermütigen Vorgängeralbum. Neben der lückenlos brillanten Instrumentalarbeit ist Sänger Ray Alder mit dem beeindrucken Spektrum seiner Stimme wieder einmal das charismatische Sahnehäubchen auf die tollen Kompositionen. Mit den zwei ruhigeren Songs, die im Spannungsbogen des Albums an den richtigen Stellen untergebracht sind, ist diese Platte einfach nur toll zusammengestellt. Und so schwer mir eine Steigerung zu den beiden Voralben noch erschien, ich finde, Redemption konnen nochmal einen draufsetzen!

    Progressives kompositorisches Meisterwerk ohne Schwachstelle!

The Origins Of Ruin
Typ1 CD / Studio
Jahr2007
LabelInside Out (SPV)
Songs
  1. The Suffocating Silence
  2. Bleed Me Dry
  3. The Death Of Faith And Reason
  4. Memory
  5. The Origins Of Ruin
  6. Man Of Glass
  7. Blind My Eyes
  8. Used To Be
  9. Fall On You
    Zum Einstieg wieder eine kleine Überlegung zum Cover. Im erquickenden Blau-Grauton (Vorsicht: das war Ironie!!!) sehen wir einen Menschen, der seinen (sorgenvollen?) Kopf in die Hände stützt, vor ihm ein unbeschriebenes Blatt, wirr um seinen "Arbeitsplatz" unzählige zerknüllte Zettel, die scheinbar nicht den richtigen Ansatz brachten. Der Albentitel verspricht uns nun den Pfad zum "Ursprung des Ruins" eines Menschen, nach dem dieser selber noch zu suchen scheint. Widmen wir uns der musikalischen Pfadfinderei genauer.

    Die Ouvertüre The Suffocating Silence (Track #1) fällt überraschend aus, denn sie ist alles andere als still. Auf Knopfdruck zimmert das volle Ensemble los: flotte Gitarrenlicks, unverschnörkelte Drums, Keyboardsound aus Streichern und Synthesizern bringen es auf beachtliche Fülle und Lebendigkeit. Erdrückend (engl.: "suffocating") wird das Arrangement nicht, da viele Akzentwechsel kommen, immer das ein oder andere Instrument in den Hintergrund wechselt. Erdrückend kann lediglich die besungene Welt aus Stille, Leere und bizarren Träumen sein, die jemand anders durchleiden musste. Mit sechseinhalb Minuten ein Opener, der den Hörer weiterzieht ohne langatmig zu wirken.
    Bleed Me Dry (Track #2) beginnt mit zarten Synthiflächen, zu denen sich ein deutlicher Slapbass gesellt. Das "Ausbluten" baut sich in einem ausgedehnten Intro langsam auf, bekommt zur ersten Strophe einen härteren Touch, die Keyboards verschwinden großteils in den Hintergrund. Der Song hat eine schöne Konstanz, die zum Titel gut passt.
    The Death Of Faith And Reason (Track #3) knüppelt hart und trocken, zu den Gitarrenriffs gibt es eine treibende Drumlinie. Auch wenn sich ab und an die Akzente auf den Offbeat verschieben oder Arpeggios ein wenig beleben, holzt der Song schön straight seine knapp fünf Minuten durch. Die bedeutendsten Highlights bringt noch Ray Alder am Mikro, wenn er teils harmonisch atypische Tonfolgen wiederholt.
    Memory (Track #4) bewegt sich zaghaft voran, über ein dünnes Intro (Synthesizer, Pianoläufe, Streicher) kommt er erst nach eineinhalb Minuten in Fahrt. Der Hauptteil hat eine schöne Charakteristik mit seinen Staccatoriffs, bedundenen Synthiarpeggios und dem ruhigen Gesang, in dem die "Erinnerung" einen tragisch-hilflosen Anstrich bekommt. Mit neuneinhalb Minuten ist er längster Song der Scheibe.
    Der Titelsong The Origins Of Ruin (Track #5) hat genau in der Mitte des Albums einen schönen Platz. Wenn es einen Song gibt, der alle Verzweiflung und Tragik, die sich durch das komplette Album zieht, auf sich vereinigt, dann dieser hier. Zunächst gibt es nur ein hohes Klavier, über das sich die weiche Gesangslinie legt. Der Song hat ein durchgehendes Crescendo, aber die Drums haben komplett Pause, am Ende gibt es zwar noch einige Gitarrentönchen, aber da haben die Vocals bereits mit der Textzeile "the origins of ruin" abgeschlossen. In seiner dünnen Struktur und dramatischen Charakteristik wird der Titelsong (mit gerade einmal zwei Minuten fünfundvierzig Dauer auch bei weitem der kürzeste des Album) zu dem wunderbaren, emotionalen Focus und seiner Positon mehr als gerecht!

    Der Man Of Glass (Track #6) verwischt die melodische und beklemmende Tristesse, eine merkliche Pause bekommt man nicht. Der Wechsel haut nicht zu gewichtig in die Stimmung, da dieser Song zwar wieder schneller und dichter ist, aber er ist sehr melodiös und bricht nicht zu weit aus. Lange Passagen sind wieder instrumental, so daß wir auch nicht mit zu viel Information zugepflastert werden und alles sacken kann.
    Blind My Eyes (Track #7) ist noch dichter und choraler, dafür langsam und melodiös wuchtig. Über das kompakte instrumentale Arrangement legen sich vielfache Gesangslinien, von denen einige auch nur in gebundenen "Aaaaahhhs" die Harmonien unterlegen. Die Bridge ist rhythmisch tricky und bringt eine klassisch progressive Note in den Song, bevor er mit flitzenden Gitarrenläufen endet.
    Used To Be (Track #8) läßt im Intro noch einmal die Sau raus: schnelle Licks der Gitarre duellieren sich mit dem quierligen Bass. Der manische Schub bricht nicht ab, was vor allem dem Schlagzeug zu verdanken ist, doch im Songverlauf wird es gradliniger, es wird auf ohrgängigen Hooklines gespielt und gesungen.
    Der Ausklang Fall On You (Track #9) nimmt sich mit etwas mehr als neun Minuten Raum, diese (wenigstens inhaltliche) Tragödie zu einem würdigen Ende zu bringen. Und, erwartet uns der bitterböse-tragische Showdown? Keineswegs! Ein wenig befremdlich klingen zu Beginn noch die Gesangslinien im ruhigen Intro. Ohne zu schnelle Umstellung gibt es Drive, es bleibt eine merklich dramaturgische Spur vorhanden, doch es dominieren Hoffnung und Wünsche, bevor es mit der letzten Textzeile "with your heart and soul as compass I will pray you find your way and that happiness will follow close behind… and peace will fall on you" in ein versöhnliches Ende geht, das haarscharf die Kurve vor dem Schmalzalarm noch bekommt.

    Diese Platte war die erste, die ich mir von Redemption gekauft habe, zunächst eigentlich nur, weil Ray Alder mal wieder am Mikro zu erleben ist und die Kritiken zur Platte überwiegend positiv waren.
    Sie hat nicht gleich eingeschlagen, das sage ich hier dazu. Selbst als Progfan ist das Phänomen nicht unbekannt, daß man sich viele Alben erst "warmhören" muß, bis sie auf einen wirken können, weil man nicht die ganze Zeit mit Lauschen, Nachdenken und Begeisterung beschäftigt ist. Im direkten Vergleich zum Voralbum The Fullness Of Time (s.u.), das ich mir erst nachträglich zugelegt habe, ist diese Platte hier dem ersten Anschein nach musikalisch unspektakulärer, sie ist deutlich ruhiger und (noch) dramatischer. Aber wie kaum ein anderes Album bei mir, bei dem es nicht auf Anhieb gekracht hat, hatte dieses hier eine unbeschreibliche Fesselwirkung. Immer wieder mußte diese Scheibe rein, beinahe täglich. Zumindest ich hatte das Gefühl "da steckt mehr hinter", und mein Ehrgeiz hat glücklicherweise nicht lockergelassen.
    Wenn ich es belebter will, halte ich mich an den Vorgänger, aber zweifelsfrei hat Masterbrain Nicolas Van Dyk ein grandioses Meisterwerk kreiert, das sich jeder Fan der Richtung einmal testweise anhören sollte.

    Ein emotional dichtes Konzeptalbum mit fesselnder Suchtgefahr!

The Fullness Of Time
Typ1 CD / Studio
Jahr2005
LabelMassacre (Soulfood Music)
Songs
  1. Threads
  2. Parker's Eyes
  3. Scarred
  4. Sapphire
       [ The Fullness Of Time Suite ]
  5. Rage (Part I)
  6. Despair (Part II)
  7. Release (Part III)
  8. Transcendence (Part IV)
    Dies ist das zweite Werk von Gitarrist, Keyboarder und Songwriter Nicloas Van Dyk, von dem Sänger Ray Alder (ehemals Fates Warning), der beim Debütalbum Redemption (s.u.) als Gastvocalist teilnahm, so begeistert war, daß er das komplette Album einsang und gleich einen Stammplatz bei Redemption für sich in Anspruch nahm.
    Das Cover verspricht reichlich Tragik und Weltschmerz: ein Mensch, dessen leuchtende (oder steht sie gar in Flammen?!) Seele sich aus ihm heraus mit weit gespreizten Armen gen Himmel neigt, begrüsst uns. Dazu der Albentitel The Fullness Of Time, der zunächst wenig (emotionale) Wertung enthält, zusammen mit dem Coverbild aber auf nichts Angenehmes hinzudeuten scheint. Nun, genug der Äußerlichkeiten, widmen wir uns dem musikalischen Material.

    Die Threads (Track #1) knüppeln unverblümt mit schnellen Riffs und Drums los, ein kurzer Break, abermals Saitenbearbeitung, erst dann kommen Keyboards und Piano hinzu, bevor nach fast zwei Minuten erstmals Gesang zu hören ist. Metrik und vor allem die Harmonien sind extravagant, erst ab der Songmitte glätten sich die Wogen ein wenig, es wird straighter. Viele Passagen mit kleinen Solo- oder Rhythmusteilen machen den Opener vielseitig und Lust auf mehr.
    Parker's Eyes (Track #2) bietet Platz zum Sackenlassen. Sphärische Synthesizer und klare Pickings verschwimmen in seinem Intro zusammen mit glattem und gleichmässigem Gesang. Nach dem Intro setzen verzerrte Riffs ein, ein arpeggierendes Piano sorgt für einen harmonischen Gegenpol. In der Songmitte bekommen wir einen kurzen Part aus Staccatoriffs und anschliessendem (ausgedehntem) Solo, das sich in einem Stimmengewirr zahlreicher übereinander liegender Samples verläuft. Das Songende kehrt zur anfänglichen Hauptlinie zurück.
    Ein verzerrter Slapbass eröffnet Scarred (Track #3), tolle Licks der Gitarre stossen dazu, noch bevor die ersten Keyboardklänge kommen, wird der Ton härter und riffiger. Mit vielen progressiven Einwürfen zieht der Song in treibender Schwungkraft durch, hat einen metallernen Stil. Zum Outro gibt es einmal einen Fadeout.
    Sapphire (Track #4) ist mit seinen sechzehn Minuten der eindeutige Ausbruch, was das Zeitmaß angeht. Klar und ruhig geht es los, über dünne und unverzerrte Gitarrenarpeggios und tiefe Streicher singt Ray Alder, Pianoläufe gesellen sich dazu. Vor Ende der ersten drei Minuten beginnen markige Riffings im Hintergrund, es wird verhalten soliert. Auch wenn der Titel ein wenig an Fahrt zulegt, bleiben Gesangslinie und -stil im selben Turnus, die Aufschichtung der Spannung erfolgt langsam und vorsichtig. In einem riesigen Feuerwerk geht dieser Longtrack zu Ende, dann gibt es zwei oder drei Sekunden absoluter Stille, quasi das vertonte Äquivalent zur filmischen Schwarzblende zwischen den Akten.

    Denn mit Rage (Track #5) starten wir in die vierteilige Suite The Fullness Of Time, die nun direkt den Albentitel abarbeitet. Die Zusammengehörigkeit beschränkt sich auf die thematischen Inhalte, die vier Songs lassen sich auch unabhängig von einander geniessen. Es besteht nicht die "Am-Stück-Hörpflicht", wie sie bei vielen vergleichbaren Werken von Genregenossen existiert (muss ja nicht verkehrt sein, ist ohne aber auch nett). Rage nun startet mit unheilsschwangeren Synthesizern und einer dunklen Männerstimme, die düstere Bilder und Flüche vor sich hinsalbadert. Anschliessend wird es schnell und manisch, die düstere Laune verfliegt in dem Schieber weitesgehend. Auch wenn Rhythmus, Riffs und Gesang schnell und druckvoll sind: so schlimm wie man es bei dem Songtitel meinen könnte wird es nicht.
    Das kurze Despair (Track #6) ist zunächst dünn, melodisch verspielt und beruhigend. Es wird etwas pompöser, was das Arrangement betrifft, das Pendel bei dieser "Verzweiflung" ist gut positioniert: weder Schmalz noch Tragik bekommen zu viel Raum. Mit gerade einmal drei Minuten zwanzig der mit Abstand kürzeste Song der Scheibe.
    Release (Track #7) übernimmt die endenden Pianoläufe aus dem Vorsong ohne Pause, baut schnell Spannung auf. Er wirkt an dieser Position dynamisch und belebend, haut aber nicht zu doll in die Bresche. Zahlreiche ohrgängige Licks und Riffs purzeln auf den Hörer ein, ein ausgedehnter Solopart mit wechselndem Gitarre- und Synthesizerschwerpunkt bildet den Mittelteil. Von der Songstimmung passt er sich gut seinem Titel an, denn man hat tatsächlich das Gefühl, einen emotionalen Brocken von den Schultern genommen zu haben.
    Mit dem achtminütigen Transcendence (Track #8) enden die vierteilige Suite und das Album. Ein wirklich gelungener Ausstand, denn man bekommt in ihm ein musikalisches und inhaltliches Fazit - zumindest der Suite. Ein wenig Schwermut klingt noch mit, letztlich dominiert das Gefühl eines distanzierten Rückblicks auf die Vergangenheit aus einer neuen (besseren?) Perspektive. Eine kleine Schmalzlinie ist erkennbar, wenn wir am Ende in flockigen Pianoklängen, mehrstimmigem Gesang, nur verhaltenen Riffs in einem Meer aus Dur-Klängen verabschiedet werden. Aber die Abrundung ist anrührend und einfach nett gemacht, wenn Ray Alder über ausklingende Streicher die letzte Textzeile "A better person having overcome the pain" schmachtet.

    Mit diesem Album hat der alleinige Songwriter Nicolas Van Dyk ein wahres Meisterstück hingelegt, das trotz wechselnder Stimmungen in einem schlüssigen Gesamtthema bleibt. Die kompositorische Linie ist lückenlos brillant, die Produktion wasserdicht. Ich persönlich kann die Begeisterung von Sänger Ray Alder ohne Abstriche nachvollziehen, und umso besser ist, daß er seit dieser Scheibe fester Bestandteil der Band wurde.
    In anderen Rezensionen, die mich mitunter zum Kauf dieser Platte brachten, las ich speziell zu diesem Album den Vermerk "Vergleichbar mit Fates Warning in ein wenig heftiger". Dem stimme ich zu, was nicht zuletzt daran liegt, daß wir denselben Sänger haben. Auch sind Fates Warning als einer der größten Einflüsse von Masterbrain Van Dyk angegeben. Dieser hat aber merklich genug eigene Ideen, denn auch wenn dieser Einfluss nicht zu bestreiten ist: geklaut oder abgekupfert hat der Komponist nicht.

    Ein großartiges Progalbum, das musikalisch klotzt und nicht kleckert!

Redemption
Typ1 CD / Studio
Jahr2003
LabelSensory Records
Songs
  1. Desperation Part I
  2. Desperation Part II
  3. Desperation Part III
  4. Desperation Part IV
  5. Nocturnal
  6. Window To Space
  7. As I Lay Dying
  8. Something Wicked This Way Comes